Zustandserfassung im Denkmal: Gutachten, Kartierung und Fotos als Grundlage für die Restaurierung

Dez 7, 2025

Zustandserfassung im Denkmal: Gutachten, Kartierung und Fotos als Grundlage für die Restaurierung

Zustandserfassung im Denkmal: Gutachten, Kartierung und Fotos als Grundlage für die Restaurierung

Ein Denkmal zu erhalten, heißt nicht, es einfach stehen zu lassen. Es bedeutet, seinen Zustand genau zu kennen - bevor irgendein Hammer ansetzt, bevor ein Pinsel berührt wird, bevor ein Cent für die Sanierung ausgegeben wird. Die Zustandserfassung ist der erste und wichtigste Schritt. Sie ist kein lästiges Papierkram-Verfahren, sondern die wissenschaftliche Grundlage für jede sinnvolle Restaurierung. Ohne sie wird aus Erhaltung Zerstörung. Ohne sie wird aus Gutachten eine Vermutung.

Was genau ist Zustandserfassung?

Zustandserfassung bedeutet: alles dokumentieren, was da ist - und was nicht mehr da ist. Es geht nicht um Schönheit, nicht um Stil, nicht um historische Bedeutung. Es geht um Materie. Um Holz, das feucht ist. Um Putz, der abblättert. Um Farbschichten, die sich über Jahrhunderte aufgebaut haben. Um Risse, die sich seit 1950 weiter ausbreiten. Um Veränderungen, die niemand mehr bemerkt, weil sie schon immer da waren.

Der Fachbegriff ist einfach: Istzustand. Nicht der Urzustand. Nicht der ursprüngliche Zustand. Der jetzige. Der, den man vorfindet. Und der muss so genau wie möglich festgehalten werden - nicht mit Worten, sondern mit Bildern, mit Zeichnungen, mit Messungen.

Die Deutsche Gesellschaft für Denkmalpflege (DGfD) hat 2021 klargestellt: Eine systematische Gesamterfassung mit abbildenden Methoden ist verpflichtend. Keine Ausnahmen. Keine Ausreden. Kein "haben wir doch immer so gemacht".

Drei Säulen der Zustandserfassung

Es gibt drei Säulen, die zusammenhalten, was sonst auseinanderfällt: Gutachten, Kartierung, Fotos. Keine davon reicht allein. Sie ergänzen sich wie Puzzlesteine.

1. Gutachten: Die fachliche Einschätzung

Ein Gutachten ist kein Bericht, den ein Architekt nebenbei schreibt. Es ist ein rechtlich relevanter Dokument, das von staatlich anerkannten Sachverständigen erstellt wird - gemäß § 10 des Denkmalschutzgesetzes. Es beschreibt nicht nur, was kaputt ist, sondern auch: Warum? Wie alt ist der Schaden? Ist es ein natürlicher Alterungsprozess oder Folge einer falschen Sanierung aus den 70ern? Ist die Substanz noch tragfähig?

Dr. Thomas Koller vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege hat in 2022 eine Analyse von 127 Gutachten durchgeführt: In 68 % fehlte eine klare Trennung zwischen Originalsubstanz und historischen Ergänzungen. Das klingt technisch, hat aber enorme Folgen: Wenn du nicht weißt, was echt ist, kannst du nicht entscheiden, was erhalten werden muss - und was weg darf. In 41 % der Fälle führte diese Unklarheit zu falschen Restaurierungsentscheidungen. Das bedeutet: Geld, Zeit und Substanz wurden verschwendet.

2. Kartierung: Der Plan, der alles sagt

Kartierung ist das Herzstück. Sie ist nicht einfach ein Grundriss mit ein paar Kreisen. Sie ist eine detaillierte, maßstabsgetreue Aufzeichnung, die drei Ebenen abdeckt:

  • Bestandskartierung: Was ist aus welchem Material? Welche Werkspuren gibt es? Welche Bauphasen liegen übereinander? Ein Fachwerkbalken aus dem Jahr 1620 sieht anders aus als einer aus 1850 - und das muss sichtbar werden.
  • Zustandskartierung: Wo genau sind Schäden? Wie groß? Wie stark? Ein Riss von 2 mm oder 20 mm? Ein Putzverlust von 10 % oder 90 %? Hier werden Prozentangaben gemacht, Kategorien wie "leicht", "mittel", "schwer" verwendet - und das alles auf einem Plan, der mit einem Aufmaß, einem Messbild oder einem entzerrten Foto als Grundlage arbeitet.
  • Maßnahmenkartierung: Was wurde schon gemacht? Wo wurden Musterflächen angelegt? Wo wurde 1980 mit einer falschen Dämmung begonnen, die heute Feuchtigkeit einbringt?

Der Leitfaden des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt (LDA-LSA) verlangt explizit: Die verwendeten Methoden müssen angegeben werden. Denn nur so kann später nachvollzogen werden, warum etwas so dokumentiert wurde. Und was vielleicht übersehen wurde.

3. Fotos: Der unsichtbare Zeuge

Fotos sind keine Erinnerungsfotos. Sie sind wissenschaftliche Daten. Nach DIN 4150-3 müssen sie in drei Ebenen aufgenommen werden:

  • Gesamtaufnahme: Zeigt das ganze Objekt - Haus, Fassade, Deckengewölbe - im Kontext.
  • Detailaufnahme: Ein Fenster, ein Balkenanschluss, ein Mauerwerkübergang - mit klarem Bezugspunkt.
  • Makroaufnahme: Mit Maßstab. Zeigt Risse, Salpeterausblühungen, Holzwürmergänge, Farbverfärbungen - so detailliert, dass man später noch erkennen kann, was genau da war.

Ein Foto ohne Maßstab ist nutzlos. Ein Detail ohne Kontext ist irreführend. Und ein Bild, das nur die schönen Seiten zeigt? Das ist keine Dokumentation - das ist Werbung.

Die LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland hat festgestellt: In 87 % ihrer Fälle wurden Schadensbilder übersehen - weil die Fotos nicht dicht genug waren. Weil die Kartierung zu grob war. Weil jemand dachte, "das sieht doch aus wie immer".

Drei Dokumentationsmethoden: Makrofoto mit Maßstab, handschriftliche Kartierung und 3D-Laserscan auf einem Tisch.

Digital oder analog? Die richtige Mischung

Laserscanning, Drohnen, 3D-Modelle - die Digitalisierung hat die Zustandserfassung revolutioniert. Ein Gebäude kann jetzt in Millimeter-Genauigkeit digital erfasst werden. Die Geschwindigkeit ist höher, die Fehlerquote niedriger. Ein terrestrisches Laserscanning kostet 1.200-1.800 € pro Objekt, aber es liefert ein Modell, das man von allen Seiten betrachten kann - auch in 10 Jahren, wenn niemand mehr vor Ort ist.

Aber: 23 % der Fälle zeigen, dass die Technik die menschliche Expertise ersetzt - statt sie zu unterstützen. Prof. Dr. Annette Kuhlmann von der TU Wien warnt: "Die technische Faszination ersetzt die sachkundige Beurteilung."

Ein Scanner erkennt keinen Unterschied zwischen einer historischen Holzverleimung und einem modernen Kleber. Ein Algorithmus kann nicht wissen, ob ein Riss durch Frost entstanden ist oder durch eine falsche Dachlast. Ein Mensch mit 20 Jahren Erfahrung sieht das sofort.

Die Zukunft liegt in der Kombination. Laserscanning liefert die Grundlage. Der Restaurator interpretiert die Daten. Die Kartierung verknüpft beides. Die Fotos beweisen es.

Das Projekt "Zustandserfassung 4.0" der Deutschen Bundesstiftung Denkmalpflege mit 2,4 Mio. € Förderung bis 2025 baut genau diese Plattform: digital, standardisiert, aber mit Platz für menschliche Einschätzung.

Warum kostet das so viel?

Ein durchschnittliches Fachwerkhaus mit 150 m² Grundfläche braucht 80-120 Stunden für eine manuelle Zustandserfassung. Mit digitaler Unterstützung sinkt das auf 30-50 Stunden. Aber das ist nicht Zeitersparnis - das ist Qualitätsgewinn.

Bei Holzbau Amstutz werden 40 % der Zeit für die Kartierung, 30 % für die Fotodokumentation aufgewendet. Der Rest für Recherche, Koordination, Bericht. Das ist kein Luxus. Das ist notwendig. Denn wenn du später einen Schaden nicht mehr lokalisieren kannst, weil die Dokumentation unvollständig ist, kostet das viel mehr. Mehr Geld. Mehr Zeit. Mehr Substanzverlust.

Der Markt für Zustandserfassung ist in Deutschland mittlerweile 42,7 Mio. € schwer. 78 % der Aufträge kommen von öffentlichen Stellen. Warum? Weil sie haften. Weil sie verpflichtet sind. Weil sie es wissen.

Historisches Gebäude als Puzzle mit fehlenden Stücken, die durch Dokumentation wieder eingefügt werden.

Was passiert, wenn du es nicht machst?

Ein Denkmal, das ohne Zustandserfassung restauriert wird, ist wie ein Patient, der ohne Blutuntersuchung operiert wird. Du weißt nicht, was wirklich kaputt ist. Du schneidest vielleicht das Richtige heraus - oder du entfernst das Einzige, was noch echt ist.

Die Bundesländer haben unterschiedliche Grenzen: In Bayern gilt die Zustandserfassung als verpflichtend ab Sanierungskosten von 500.000 €. In Nordrhein-Westfalen schon ab 250.000 €. Das ist kein Zufall. Das sind Erfahrungswerte. Die Schäden, die man nicht sieht, kosten später das Zehnfache.

Und feuchtebedingte Schäden? In 65 % der Gutachten wird die zeitliche Entwicklung nicht dokumentiert. Das heißt: Du siehst einen feuchten Putz. Aber weißt du, ob er seit 10 Jahren so ist - oder seit 3 Monaten? Das entscheidet, ob du die Dämmung tauschen musst - oder nur die Dachrinne.

Was muss am Ende stehen?

Am Ende der Zustandserfassung steht kein Stapel Papier. Sondern eine klare, nachvollziehbare, digitale und analoge Grundlage für jede weitere Entscheidung. Es ist die einzige Möglichkeit, um:

  • zu wissen, was wirklich erhalten werden muss,
  • zu beweisen, warum eine Maßnahme notwendig ist,
  • Finanzmittel zu beantragen,
  • Restauratoren, Architekten und Handwerker auf denselben Stand zu bringen,
  • und zukünftige Generationen zu ermöglichen, genau zu sehen, was heute noch da war.

ICOMOS sagt seit 2023 klar: Ein Denkmal wird nie zum letzten Mal restauriert. Es wird immer wieder verändert. Deshalb muss jeder Zustand genau dokumentiert werden - nicht nur für heute, sondern für morgen. Für die, die kommen, wenn wir nicht mehr da sind.

Warum ist die Zustandserfassung rechtlich verpflichtend?

Weil sie die Grundlage für jede öffentliche Förderung und jede genehmigte Sanierung bildet. Gemäß § 10 des Denkmalschutzgesetzes müssen Gutachten von anerkannten Sachverständigen erstellt werden - und diese basieren auf einer vollständigen, nachvollziehbaren Zustandserfassung. Ohne sie ist kein Sanierungsantrag genehmigungsfähig.

Kann ich die Zustandserfassung selbst machen?

Du kannst Fotos machen und Notizen schreiben - aber kein rechtlich gültiges Gutachten erstellen. Die fachliche Bewertung und Dokumentation muss von einem staatlich anerkannten Sachverständigen durchgeführt werden. Eigenleistungen können als Ergänzung dienen, aber nicht als Ersatz.

Welche Methode ist am besten: Laserscanning oder manuelle Kartierung?

Beide haben Vor- und Nachteile. Laserscanning ist präziser und schneller, besonders bei komplexen Fassaden. Aber es erkennt keine Materialveränderungen oder historische Ergänzungen. Manuelle Kartierung braucht mehr Zeit, aber der Mensch erkennt, was der Scanner nicht sieht. Die beste Lösung ist die Kombination: Digital für die Geometrie, analog für die Interpretation.

Was kostet eine Zustandserfassung für ein kleines Denkmal?

Für ein kleines Denkmal (z. B. ein historisches Torhaus) liegen die Kosten zwischen 3.000 und 8.000 €, je nach Komplexität, Zugänglichkeit und benötigter Detailtiefe. Digitale Methoden erhöhen die Anfangskosten, senken aber langfristig die Risikokosten durch bessere Planung.

Wie lange gilt eine Zustandserfassung?

Sie gilt solange, bis sich der Zustand signifikant verändert - etwa durch Feuchtigkeit, Schädlingsbefall oder eine neue Sanierung. Die Dokumentation ist nicht veraltet, aber sie muss ergänzt werden, wenn neue Schäden auftreten. Deshalb wird Monitoring als Stufe II empfohlen.

Warum ist die Dokumentation von Materialien wichtig?

Weil jedes Material anders altert. Ein Kalkputz aus dem 18. Jahrhundert reagiert anders auf Feuchtigkeit als ein moderner Zementputz. Wenn du nicht weißt, was da drinsteckt, kannst du keine passende Restaurierung wählen. Die falsche Materialwahl führt zu schnellerem Zerfall - und das ist oft irreversibel.

1 Kommentare

Maxim Van der Veken
Maxim Van der Veken
Dezember 8, 2025

Also ich hab jetzt 37 Gutachten gelesen, und jedes Mal dachte ich: "Oh Gott, wieder dieser blöde Satz mit dem 'Istzustand'"... aber WIRKLICH, Leute, das ist das Einzige, was zwischen einem Denkmal und einer Trümmerhaufen unterscheidet. Ich weine, wenn ich sehe, wie jemand 'historisch' sagt, aber den Putz mit Zement verstreicht. 🥲

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